Ein Bild und (seine) Geschichte

Folgendes Fundstück aus einem alten Fotoalbum gab mir zunächst Rätsel auf: Wer sind die Kinder auf dem Bild? Wann und wo wurde die Aufnahme gemacht? Und was um Himmels willen ist hier eigentlich zu sehen?!? Zwei, drei Recherche-Abende später fügten sich die Ergebnisse zu einer interessanten Geschichte zusammen.


Die etwas unscharfen Personen waren schnell als die Kinder von Alfred und Anni Schlenk identifiziert. Damit konnte auch das Aufnahmedatum auf ca. 1952 eingegrenzt werden. Eine Analyse des (ebenfalls unscharfen) Firmenschilds im Hintergrund lieferte dann den entscheidenden Hinweis auf den Aufnahmeort: Zufälligerweise kaufte Anni Schlenk bis zu ihrem Lebensende gerne im besagten Reformhaus Sattran ein. Sogar ihre Katze Mini in Ottmannsreuth bekam mitunter feinstes Tatar von dort!

Nachdem nun Bayreuth als Stadt feststand, gelang es trotz nur rudimentärer Ortskenntnisse, aber dafür mit umso mehr Glück, im Bild immerhin die Kanalstraße zu erkennen.
Nun könnte man meinen, dass auf dem Bild eine x-beliebige Baulücke aus der Nachkriegszeit zu sehen ist, so wie sie im Bayreuth der 1950er Jahre an vielen Stellen anzutreffen waren.

Im Erdgeschoss eines ausgebombten Hauses eingerichtetes Geschäft am Luitpoldplatz

Aber soll das wirklich eine kriegsbedingte Baulücke sein? So einfach stellt sich die Sache nämlich nicht dar…

Photographisches Atelier Engelbrecht

In der Tat war die im Bild durch zwei Holzschranken abgesperrte Lücke zwischen dem Flachbau und dem großen Gebäude hinten ganz rechts bis zum Kriegsende mit einem kleineren Haus bebaut gewesen, in dem sich das Photographische Atelier von Hans Engelbrecht befand. Sein Vater Georg Engelbrecht hatte sich 1878 als Fotograf in Bayreuth niedergelassen. Dessen Studio befand zunächst im Rennweg (heute: Richard-Wagner-Straße) nahe dem Sternplatz. Innerhalb der folgenden 10 Jahre baute er sich ein neues Atelier in der Schwarzen Allee (heute: Kanalstraße). Ein Foto des Hauses existiert nicht (?), allerdings gibt es eine Lithografie. Der Grund ist folgender: Die damaligen Abzüge auf Albuminpapier waren so dünn, dass man sie auf Pappe aufkleben musste. Auf der Rückseite dieser Pappe brachten die Fotografen oft Werbung für den eigenen Betrieb an. Die große Konkurrenz zur damaligen Zeit ließ die Qualität der Fotorevers immer weiter ansteigen und es wurden zunehmend detailreiche Fotolithografien aufgedruckt, so auch ein Bild des Ateliers.

Georg Engelbrecht hatte sich im Laufe der Zeit sogar den Titel eines Fürstlichen Hofphotographen erworben, womit u.a. auch auf Vorder- und Rückseite von Ururgroßvater Georg Prechtels Portraitfoto (siehe weiter unten) geworben wurde:

Fotorevers des Portraitfotos von Georg Prechtel (Analogie)

Die Prechtels gingen seit jeher „zum Engelbrecht“. Untenstehend drei Portraitfotos aus dem Familienalbum, die seinerzeit von Georg bzw. Hans Engelbrecht angefertigt wurden:

Das auf dem Fotomotiv von 1952 nicht mehr existierende Fotostudio in der Nummer 11 weckte beim Fotografen Alfred Schlenk (?) sieben Jahre nach Kriegsende sicher Erinnerungen an die Vergangenheit. Er hatte sich u.a. nach seiner Beförderung zum Offizier dort fotografieren lassen.

Hotel Reichshof

Doch nun zum einstöckigen Gebäude in der Mitte des Bildes. Ob genau dieser Bau mit Flachdach mit den Hausnummern 7 (Sattran) und 9 bereits vor dem Krieg stand, ist schwer zu sagen, kann allerdings angesichts des rußgeschwärzten Sockels vermutet werden. Eine Luftaufnahme, die am 10. April 1945 kurz vor der Zerstörung Bayreuths gemacht wurde, lässt anhand des Schattenwurfs die Höhe der Gebäude erkennen.

Die beiden großen Wohnhäuser mit den Hausnummern 13 und 15 waren schon im Jahr 1937 vorhanden (siehe Stadtplan). Das schmale Atelier mit der Hausnummer 11 (links neben Nr. 13) warf einen kleinen Schatten. Nummer 7 hatte 1945 noch ein Giebeldach, das ebenfalls einen Schatten warf. Auf dem Grundstück der Nummer 9 könnte sich ein flaches Gebäude befunden haben; für Straßenpflaster war die Farbe zu dunkel.

Diese Annahmen werden gestützt durch zwei Bilder aus den 1930er Jahren. Im oberen Bild sind Baracken oder kleinere Gebäude auf der linken Seite zu erkennen; auch das Photostudio Engelbrecht lässt sich erahnen. Das untere Bild zeigt das flache Gebäude mit dunklem Dach ganz deutlichen in der oberen linken Ecke.

Besitzverhältnisse und Bewohner in der Kanalstraße (1937), eine Nummer 9 ist noch nicht aufgeführt

Die Luftbildaufnahme von 1945 ist auch aus anderen Gründen interessant: Zum einen zeigt sie das Areal des Neuen Rathauses (nördlich der Kanalstraße) noch völlig unzerstört – beim Luftangriff vom 11. April 1945 wurde u.a. das ehemalige Palais Reitzenstein am Luitpoldplatz, das „schönste Haus der Stadt“, völlig zerstört. Zum anderen lässt sich anhand der Rückgebäude der Häuser in der Maximiliansstraße sehr schön der Verlauf der alten (z.T. heute noch sichtbaren) Stadtmauer nachvollziehen. Alle Parzellen nördlich der sehr dichten Bebauung waren noch im 19. Jahrhundert Gärten außerhalb der Stadtmauer.

Stadtplan von 1866, der Reichshof ist dunkel eingefärbt

Eine Ausnahme bildete lediglich das Grundstück mit der Nummer 7, auf dem bereits 1850 ein Gebäude direkt an der Schwarzen Allee stand. Das zugehörige Vorderhaus in der Maxstraße 91 (heute: Maxstraße 28) ist nämlich der alte Reichshof, der als großes Hotel das zusätzliche Rückgebäude sicher gut gebrauchen konnte.

Hotel Reichsadler, Maximilansstraße 28 (um 1910)

Die Historie des Reichshofs als Gasthaus reicht bis ins 14. Jahrhundert zurück. Im Jahr 1676 wurde der Wappenstein an der Fassade eingesetzt („Diß Haus stehet in Gottes Hand – Bey dem Guldenen Adler ist eß Genandt“); der Gasthof hieß später Goldener Reichsadler. Im Jahr 1926 wurden von Adalbert Anger die „Reichshof-Lichtspiele“ gebaut; im Orchestergraben begleiteten Musiker die Stummfilme. Am 3. August 1939 bekam das Kino mit Adolf Hitler prominenten Besuch. Bei der Bombardierung Bayreuths am 11. April 1945 blieb der Reichshof zunächst unversehrt. Allerdings fraß sich ein Feuer, das die SS am 14. April 1945 im Alten Schloss gelegt hatte, um Dokumente zu verbrennen, von Haus zu Haus die nördliche Maximiliansstraße entlang und zerstörte letztlich auch das Vorderhaus des Reichshofs und teilweise das Kino.

70 Jahre später

…präsentiert sich das Quartier wieder fast wie vor dem Krieg. Der Wiederaufbau zog sich bis in die 1960er Jahre hin. Das außergewöhnliche Zollinger Lamellendach des Kinos wurde schon 1948 wieder restauriert. Das Haus Maximiliansstraße 30 (siehe Bilder oben) wurde allerdings erst 1965 abgetragen. Gegenüber der Aufnahme von 1952 ist die Kanalstraße Nr. 9 bzw. 9a etwas kleiner geworden (Flurstück 115/3), evtl. um eine breitere Durchfahrt bzw. Stellplätze zu schaffen.

Dies war die Geschichte der „Kriegs-Baulücke“ auf dem Foto von 1952, die eigentlich nie eine gewesen war. Unbestritten ist jedoch, dass diese Ecke Bayreuths seit mindestens 70 Jahren wenig attraktiv ist. Wohl ein Grund, dass sie im Jahr 2010 als „Sanierungsgebiet G“ in den Sanierungsplan der Stadt Bayreuth aufgenommen wurde.

Die Urenkel von Alfred und Anni Schlenk in der Kanalstraße (2022)