Dawes-Anleihe

Der Begriff der transgenerationalen Weitergabe kriegsbedingter Belastungen wird seit der Jahrtausendwende verstärkt diskutiert (siehe auch der Terminus „Kriegsenkel“). Diese kleine Geschichte zeigt, dass dies nicht nur für Traumata gilt, sondern auch für „finanzielle Belastungen“. 😁

Urgroßvater Konrad Schlenk wurde 1915 zum Kriegsdienst eingezogen und kämpfte von da an an der französischen Front. Er fiel im Juli 1918 in der Nähe von Reims. Nur wenige Monate später endete der Große Krieg mit einem Waffenstillstand. Mit Artikel 231 des Friedensvertrages von Versailles wurden allein Deutschland und seine Verbündeten für den Krieg und die daraus hervorgegangenen Verluste und Schäden verantwortlich gemacht. Dementsprechend hoch waren die Reparationsforderungen der Alliierten.

Da verging Urgroßvater Hans Prechtel der Durst: Die in Bayreuth ab 2.11.1923 – und wahrscheinlich wieder nur kurz – geltenden Bierpreise (Aushang gedruckt von Fa. Ellwanger, Bayreuth).
Sechs Wochen zuvor war in Bayern der Ausnahmezustand verhängt worden.

Die aus deutscher Sicht unerfüllbaren Bedingungen führten letztlich zum Ruhrkampf, Hyperinflation, Arbeitslosigkeit, und einer Währungsreform (Rentenmark). Vor diesem Hintergrund wurde 1924 die Reparationsfrage neu verhandelt (sog. Dawes-Plan). Für die Zahlung der reduzierten Jahresraten wurden neben Zahlungen aus dem Reichshaushalt unter anderem auch die Erlöse der vom Deutschen Reich im Ausland aufgelegten „Dawes-Anleihe“ verwendet. Die Deutsche Äußere Anleihe 1924, so der offizielle Name, diente nach der Währungsreform als Erstausstattung der Reichsbank und hatte ein Volumen von 800 Millionen Reichsmark, aufgeteilt in verschiedene Währungstranchen. Der Kupon betrug sieben Prozent und die ursprüngliche Laufzeit war 25 Jahre bis 1949.

In Deutschland galt der Versailler Vertrag als „Schandfrieden“ oder „Friedensdiktat“ und wurde als nationale Demütigung aufgefasst. Eine Revision des Vertrages wurde zu einem vorrangigen Ziel der deutschen Außenpolitik.

„Fronen bis in die dritte Generation“ – Volksbegehren zur Verhinderung des Young-Plans, dem Nachfolger des Dawes-Plan (1929)

1929 wurde im Young-Plan die Dauer der Reparationszahlungen auf weitere 59 Jahre (also bis 1988) festgesetzt. Obwohl der Plan insgesamt eine Verbesserung der deutschen Situation darstellte, versuchte die Rechte aus Empörung über die lange Laufzeit, den Young-Plan mit einem Volksentscheid zu verhindern. Dieser Volksentscheid half Adolf Hitler in die Politik zurückzukehren und in der Bevölkerung an Popularität zu gewinnen.

1932 wurden die deutschen Reparationsverpflichtungen von den Alliierten aufgehoben. Allerdings fiel die „Dawes-Anleihe“ (ebenso wie die „Young-Anleihe“) nicht unter den Reparationsstopp, da es sich bei ihnen um finanzielle Verpflichtungen des Deutschen Reiches gegenüber privaten Gläubigern aus diversen Ländern gehandelt hatte. Nach der Machtübernahme Hitlers wurden die Zinszahlungen für diese Anleihen dennoch eingestellt.

Die Ungerechtigkeiten des „Gewaltfriedens“, insbesondere die Gebietsverluste, bestimmten weiterhin die politische Debatte und führten letztlich in den Zweiten Weltkrieg.

Grenzstein an der Montauer Spitze in Weißenberg (Westpr.) am Dreiländereck Danzig-Polen-Deutschland. Die zwei (bzw. drei) Seiten der Grenzsteine waren mit „F.D“, „P“ und „D“ markiert.

Nach der Annexion Polens wurden auch die Grenzsteine im Bereich des durch den Versailler Vertrag entstandenen Dreiländerecks Danzig-Polen-Deutschland entfernt. Großvater Alfred Schlenk unternahm während seiner Zeit als Lehrer in Stuhm (Westpreußen) mit seinen Schülern weiterhin Ausmärsche zu jenem 10 km entfernten geschichtsträchtigen Ort, der an die Abtrennung Westpreußens erinnerte: Abzweig der Nogat an der Montauer Spitze, die große Schleuse dort sowie das auf dem Weißen Berg errichtete Westpreußenkreuz mit wunderbarem Blick über das Weichselland. Ziel dieser Märsche war nicht nur die körperliche und seelische Stählung der Schüler, sondern auch die Erhöhung ihrer Kriegstüchtigkeit.

Am Ende war der Versailler Vertrag lediglich ein Waffenstillstand auf 20 Jahre gewesen…

Das Westpreußenkreuz : „Westpreußen dem unteilbaren deutschen Weichselland“

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde im Londoner Schuldenabkommen von 1953 die Rückzahlung der privaten deutschen Auslandsverschuldung geregelt. Die Dawes-Anleihe musste mit neuen Bedingungen wieder bedient werden. Die rückständigen Zinsen aus den Jahren 1933 bis 1944 wurden in eine sogenannte Fundierungsschuldverschreibung umgewandelt und bis 1972 von der Bundesrepublik Deutschland abbezahlt. Die Zinsen von 1945 bis 1952 waren erst mit einer Wiedervereinigung Deutschlands nachzuzahlen, verbrieft durch Bezugsscheine. Diese Bezugsscheine wurden zeitweise wie historische Wertpapiere (obwohl weiterhin gültig) zu Niedrigstpreisen verscherbelt, da vor 1990 keiner ernsthaft an eine Wiedervereinigung glaubte.

Alte Wertpapiere erzählen ihre eigenen Geschichten: Bezugschein von 1953

Alfred Schlenk besaß vier dieser Bezugsscheine im Nennwert von je 200 Schweizer Franken. Seit wann, ist nicht bekannt.

In einem Depotauszug vom 8. Februar 1989 sind jene Bezugsscheine im Gesamtwert von 800 SFR aufgeführt. Zu diesem Zeitpunkt wurde eine Wiedervereinigung als nicht mehr realistisch angesehen. Erst drei Tage zuvor erst war an der Berliner Mauer der 20-jährige Chris Gueffroy bei dem Versuch, mit seinem Freund Christian Gaudian in den freien Westen zu gelangen, erschossen worden. Die vier beteiligten Grenzsoldaten wurden sogar mit dem „Leistungsabzeichen der Grenztruppen“ und je 150 DDR-Mark Prämie ausgezeichnet. Der Todesschütze war nur drei Jahre älter als Gueffroy.

Stelle, an der Chris Gueffroy und Christian Gaudian um 23.39 Uhr Alarm auslösten

Keiner konnte sich vorstellen, dass neun Monate später der Berliner Todesstreifen obsolet war.

Mit der Wiedervereinigung Deutschlands am 3. Oktober 1990 wurden schließlich die Zinsen in Höhe von 251 Millionen Mark aus den Jahren 1945 bis 1952 wieder fällig. Die Bundesregierung gab darauf Fundierungsanleihen aus (WKN 117006 für die Schweizer Tranche), mit einem Drei-Prozent-Kupon, einem Volumen von 200 Millionen DM und einer Laufzeit von 20 Jahren, in die die Bezugsscheine umgewandelt werden konnten.

Sechs Wochen vor seinem Tod erhielt Alfred Schlenk einen Brief von seiner Bank, in dem der Umtausch angekündigt wurde. In der Folge kümmerte sich sein Sohn Wolfgang Schlenk, ein Kriegsenkel des 1. Weltkriegs, um die weitere Verwaltung des Depots.

Doch kaum war das Kapitel Versailler Vertrag endgültig abgeschlossen, gab es wieder Misstöne im deutsch-französischen Verhältnis: Es stand die Abstimmung über den Maastrichter Vertrag an, der zur EU, dem Euro und in die „ever closer union“ führen sollte. Inoffiziell ging es aber auch um die Einhegung des wirtschaftlich stärkeren, vereinigten Deutschlands.

„‚Deutschland wird zahlen‘, sagte man in den zwanziger Jahren, Deutschland zahlt heute: Maastricht, das ist der Versailler Vertrag ohne Krieg“, schrieb Chefredakteur Franz-Olivier Giesbert am 18. September 1992 im Pariser Le Figaro. Mit Aussagen wie dieser wurde dann, wenn auch knapp, die Volksabstimmung in Frankreich über den ersten EU-Vertrag gewonnen.

Auf deutscher Seite, wo keine Volksabstimmung vorgesehen war, bezeichnete Spiegel-Gründer Rudolf Augstein den Euro einst als „Über-Versailles“. Der Ökonom Prof. Joachim Starbatty, einer der Kläger gegen den Maastricht Vertrag, wurde später Gründungsmitglied der eurokritischen Partei AfD.

Auch wenn das Verhältnis zwischen Kausalität und Kontingenz in der Geschichtsforschung nach wie vor heiß debattiert wird, so sind die Steueranteile für EU-Beitrag, Euro-Hilfsprogramme etc., die Konrad Schlenks Urenkel heute gezwungenermaßen, aber letztlich doch bereitwillig zahlen, Teil einer Kausalkette, die sich bis zum Ersten Weltkrieg spannen lässt. Wäre nur der Blick in die Zukunft genauso einfach wie die Rückschau!